Mittwoch, 8. Mai 2013

Toskanische Momente

Als Gesine vorschlug, in die Toskana zu fahren, war ich irgendwie erleichtert. Bei ihren Freundinnen standen zurzeit ganz andere Reiseziele auf der Tagesordnung: Je nach Jahreszeit entweder Club-Urlaub in der Türkei oder Weihnachtsmarktbesuche in Nürnberg oder Dresden. So etwas in der Art. Zeitvertreib also, den man nicht unbedingt braucht und der einem normalen Mann durchaus an die psychische Substanz gehen kann. Verglichen damit wirkte die Toskana wie ein himmlischer Ort.
Über das Transportmittel herrschte ebenfalls recht schnell Einigkeit. Ja, ich weiß: Aus ökologischen Gründen müsste man mit der Eisenbahn fahren. Dagegen spricht ja im Prinzip auch gar nichts. Doch liegt der Teufel wie so oft im Detail. Die Langstrecke an sich ist nicht das Problem; es sind die letzten 50 Kilometer. Überlegen Sie doch: Sie steigen in Pisa, Florenz, Siena oder gar Piombino aus dem Zug (immer vorausgesetzt, diese Orte sind wirklich ans Schienennetz angeschlossen), was dann? Wie geht es dann weiter? 
Bus? Mit all dem Gepäck? (Und ich spreche nicht von meinem Gepäck.) 
Taxi? Ich bitte Sie! Da muss man ohnehin aufpassen wie ein Schießhund, dass man nicht übers Ohr gehauen wird, und dann noch in einem fremden Sprachraum? Nein, nein. 
Bliebe ein Mietwagen. Aber ich muss sagen, dass ich kein Mietwagen-Typ bin. Da weiß man doch gar nicht, welche Rabauken vorher mit dem Auto gefahren sind. Vielleicht haben sie etwas kaputt gemacht und bei der Rückgabe nichts gesagt? Dann tritt man vor der Einfahrt zu einem Weingut auf die Bremse und wundert sich, dass man ohne merkliche Verzögerung durch die Pinienallee schießt und koppheister an der nächsten Zypresse endet. Fazit: Eigener Herd ist Goldes wert, und das gilt auch fürs eigene Auto. Entweder richtig oder gar nicht.
Wir sind dann also los. Ich gebe zu: Nach einigen hundert Kilometern, spätestens kurz vor der schweizerischen Grenze, melden sich untergründig Zweifel an der Entscheidung zugunsten der Autofahrt. Aber dann: Helvetien! Hohe Berge, grüne Matten, puppenstubenartige Häuser, Serpentinen, Tunnel so lang wie die Eifel. 
Und quasi anschließend: Italien. An der ersten Mautstation regt sich noch die vage Hoffnung, dass der Sprit im Preis enthalten sei. Siebenundzwanzig Mautstationen und drei Kilometer weiter hat man sich von dieser lustigen Idee verabschiedet. Und recht schnell erkennt man neidlos an, dass die Italiener diese Wegelagerei als Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip vervollkommnet haben. Kurz nach Mailand ist nämlich plötzlich Schluss mit Mautstationen auf der Autobahn. Die Erleichterung darüber hält aber nur so lange, bis man im Vorbeifahren aus dem Augenwinkel bemerkt, dass es an jeder Ausfahrt eine gibt. Ab diesem Punkt materialisiert sich im Kopf ein Zählwerk, dass gleichzeitig die Beträge der eigenen Tages- und Festgeldkonten sowie die aktuellen Aktienkurse zusammenrechnet, um festzustellen, ob man überhaupt noch in der Lage sein wird, sich an der Zielausfahrt freizukaufen.
Aber es sollte ohnehin alles anders kommen. 
Wir hatten Parma hinter uns gelassen und die Berge erklommen. Von da ab ging es grundsätzlich bergab, Richtung La Spezia. Hinter einem kurzen Tunnel ein Schild: „Willkommen in der Toskana“. Und kurz nach dem Schild: Versagen der Benzinpumpe. Gesine bemerkte den Schaden, allerdings nicht am widerwilligen Ruckeln des Fahrzeugs, sondern an meinem analytischen Gesichtsausdruck.
„Alles in Ordnung?“
„Nein. Auto ist kaputt.“
Wir hatten Glück im Unglück: Knapp zwei Kilometer bergab gab es eine Autobahntankstelle. Einige Telefonate später kam die Hoffnung auf, dass es einen Abschleppdienst gebe. Einziger Haken: Es war natürlich Freitag Nachmittag. Dennoch trafen anderthalb Stunden später zwei Beauftragte der nächstgelegenen Werkstatt ein, wobei das Wort nächstgelegen relativ zu verstehen ist. Ich wunderte mich zunächst, dass auf der Ladefläche bereits ein anderes Auto mit zwei Passagieren stand, und fragte mich, wie sie uns da mitnehmen wollten. Doch die beiden Nothelfer, gekleidet in blaue Trikots ihrer Fußballnationalmannschaft, fuhren zwei Rollen aus dem Heck des Lasters. Dann schoben sie mein Auto mit den Vorderrädern darauf und hoben die Rollen hydraulisch um zwanzig Zentimeter an. Fertig. Vorderräder am Laster, Hinterräder auf der Straße. Wir würden auf jeden Fall Sprit sparen.
„Wieder in Auto!“, bedeutete der eine. „Und nix bremse! Attentione! Nix bremse!“
Nun, das leuchtete ein. Nicht bremsen! Ich bin ja nicht blöd!
Also ging es los, weiter bergab, Richtung La Spezia. Allerdings nur rund zehn Kilometer. Dann nahm der Schlepper die Ausfahrt, und während ich noch heiter dachte: „Das war ja gar nicht weit“, hielten wir an der Mautstation. Der Kassierer entpuppte sich als pflichtversessener Pedant: Er kassierte nicht nur beim Fahrer des Abschleppwagens, sondern auch bei den Menschen auf der Ladefläche und natürlich bei mir. Und ich hatte in Mailand letztmals gezahlt, was ihn zu freuen schien. Vermutlich nahm er nicht jeden Tag derartige Summen ein.
Allerdings kam ich nicht dazu, allzu sehr mit meinem Schicksal zu hadern, denn während ich missmutig nach der Werkstatt Ausschau hielt, nahm der Abschleppwagen die gegenüberliegende Auffahrt und setzte die Reise rückwärtig fort, wieder bergauf, Kilometer für Kilometer, und zwar Kilometer, für deren Befahrung ich bereits Gebühr bezahlt hatte. Mir schwante nichts Gutes.
„Wohin fahren die Männer?“ wollte Gesine verwirrt wissen.
„Zur Werkstatt natürlich. Wohin sonst?“
Nun gebe ich zu, dass diese Art der Fortbewegung gewöhnungsbedürftig ist. Man sitzt im Auto wie immer, nur ein wenig nach hinten geneigt, und fährt knapp einen Meter hinter einem Laster her, ohne dass man Geschwindigkeit, Abstand und Richtung irgendwie beeinflussen könnte. Zudem wippt das Auto bei jeder Bodenwelle sanft auf und ab. Es ist durchaus merkwürdig, wobei der Ausdruck „merkwürdig“ die Gefühle nicht exakt beschreibt. Gesine jedenfalls hatte ihr Tagebuch aus der Handtasche gezogen und begonnen, an einem Entwurf ihres Testaments zu arbeiten, wobei sie leise vor sich hin jammerte. 
Mich plagten ganz andere Sorgen. Mir fiel nämlich plötzlich auf, dass ich mit den beiden Tifosi im Cockpit keinerlei Kommunikationswege vereinbart hatte. Und Kommunikation wird ja häufig unterschätzt, beispielsweise dann, wenn man mitteilen möchte, dass einem in Kürze die Blase platzen wird. Und genau dieser Notfall bahnte sich mit Macht an.
Nun hätte ich hupen können. Aber unter uns: Wir waren in Italien. Da fiel man höchstens auf, wenn man nicht hupte. Und da ich die ganze Zeit über nicht gehupt hatte, wusste ich ja bereits, dass das auch nicht helfen würde. Nun hätte ich mein Händi benutzen können, mit immerhin fast tausend Nummern im Speicher. Sie ahnen es: Die der beiden Abschlepper waren nicht darunter. Kurz beleuchtete ich noch die Idee, das Fenster herunterzukurbeln und laut zu rufen und zu gestikulieren. Aber erstens machten Fahrtwind und Abschleppwagen einen Lärm wie zwanzig Mähdrescher, so dass die Akustik als Hilfsmittel ausfiel, und zweitens war der Laster viel höher und breiter als mein Auto, so dass ich mir auch optisch wenig Aussicht auf Erfolg versprach. 
Irgendwann kam dann der Moment, an dem sich die biologischen Grundmechanismen ihre Bahn brachen, der Moment, an dem ich verzweifelt die Bremse betätigte. Unser Auto sprang aus der Vorderradauflage und hüpfte zwei, drei Mal mit den Federbeinen, bis es sanft auf dem Seitenstreifen ausrollte, begleitet vom schrillen Quietschen der Bremsen des Abschleppwagens, dessen Fahrer von meiner einsamen Entscheidung ebenso überrascht worden war wie die Insassen des anderen Havaristen auf der Ladefläche, deren Auto von dem Bremsmanöver hart in die Halteketten gedrückt wurde und sich deshalb spontan entschloss, die Airbags auszulösen. Als die Nitrozellulose-Sprengsätze knallten, stand ich bereits wohlig seufzend an einem Busch neben dem Seitenstreifen und ließ die Physiologie zu ihrem Recht kommen.
Unglücklicherweise hielt in genau diesem Augenblick der körperlichen und seelischen Erleichterung ein Polizeiauto neben mir. Nach einem Versuch in italienischer Sprache versicherte mir der Carabinieri in gebrochenem Deutsch, dass ich da soeben etwas sehr Ordnungswidriges tat. Außerdem wollte er wissen, wer die bewusstlose Dame in meinem Fahrzeug sei und was ich mit ihr angestellt habe.
Um es kurz zu machen: Wenig später waren fast alle Beteiligte auf getrennten Wegen unterwegs. Der Abschleppwagen mit zwei entsetzten Passagieren nebst erschlafften Luftsäcken auf der Ladefläche in Richtung Werkstatt, mein Auto mit einem zweiten Abschleppwagen in Richtung anderer Werkstatt, Gesine mit einem Krankenwagen in Richtung Hospital, und ich mit den Carabinieri in Richtung Polizeistation.
Gesine und das Auto habe ich erst am nächsten Tag wiedergesehen. Kreislauf und Benzinpumpe liefen wieder. Wir sind dann nicht in die Toskana gefahren. Vielleicht nächstes Jahr.

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© Julius Moll

Passen muss es.

„Wenn Frauen nicht sprechen, soll man sie keinesfalls unterbrechen.“ Einen solchen Satz, wie aus Stein gemeißelt, kann wohl nur Clint Eastwood von sich geben und wird dennoch von allen angehimmelt. Vermutlich hat er es ja auch nicht so gemeint. Wir alle wissen, dass es keine 30 Sekunden dauern würde, bis Mann annähme, dass die Gefährtin unter einer heimtückischen Krankheit litte, und fragte: „Liebes, ist dir nicht gut?“ – nur um dann zu hören: „Ich kann heute Abend nicht mit zur Party gehen. Ich habe kein passendes Kleid."
Bevor jemand vor Wiedererkennung schmunzelt oder gar lacht: Das ist ja wirklich keine schöne Sache, vor allem während einer Urlaubsreise, wo man nicht den gesamten Inhalt des Kleiderschranks mit sich führt; einige Stücke müssen ja immer zu Hause bleiben. Entweder hängt einem das Kleidungsstück wie ein Sack vom Leib – figurumschmeichelnd, wie der Fachmann sagt –, oder es sitzt so spack, dass man kaum Luft holen möchte, beziehungsweise kann.
Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass Konfektion, die man schon länger besitzt, nie zu weit ist, sondern immer zu eng? Vermutlich hat das irgendwas mit diesen Kalorien zu tun, von denen man so oft hört. Und die wiederum sind Wärmeeinheiten, so dass wir vermuten dürfen: Die Verengung älterer Kleidungsstücke hat etwas mit Thermodynamik zu tun. Leider geben die Physiklehrbücher über die zu Grunde liegenden Naturgesetze keine befriedigende Auskunft. Nun ja, bis auf Marie Curie war ja auch keine Frau unter denen, die diese Dinge ausgearbeitet haben. Kein Wunder also, dass praktische Ableitungen der thermodynamischen Hauptsätze nicht existieren.
„Außerdem habe ich auch keine passenden Schuhe.“ Nun, bei genauem Hindenken kann das nicht verwundern. Wenn man kein passendes Kleidungsstück hat, gibt es ja nichts, wozu die Schuhe passen könnten. Und selbst wenn man die Farb- und Stilfrage außer Acht lässt, wird das Problem eher größer als kleiner. Wenn nämlich nur Schuhe im Regal stehen, die entweder eine Nummer zu groß oder eine Nummer zu klein sind, dann ist anmutiger Gang kaum möglich. Ich bewundere ja rückhaltlos jede Frau, die es schafft, auf Stilettos gerade zu stehen, ohne sich die Fußgelenke zu brechen – vom Gehen ganz zu schweigen. Und wenn die Dinger dann auch noch zu klein sind … oder gar zu groß?
Nun wollen wir nicht verschweigen, dass es natürlich auch möglich wäre, ohne Schuhe zur Party zu gehen. Aber überlegen Sie mal selbst: Bei dem Zeug, das die Leute, ihre Kinder und ihre Hunde heutzutage so alles auf dem Bürgersteig und in Nah- und Fernverkehrsmitteln abladen, ist das auch keine rechte Freude. Da erreicht man die Party, sieht einigermaßen gut aus (vorausgesetzt, man hat doch noch irgendeinen unscheinbaren Fummel im Gepäck gefunden), und dann sehen die baren Füße aus wie ein umgestülpter Horror-Mülleimer. Beklebt mit Kaugummis, gespickt mit Kanülen, triefend von Bierresten, paniert mit Zigarettenkippen; alles in Allem kein schöner Anblick.
Zusammenfassend kann man also durchaus feststellen, dass passende Sachen sehr hilfreich sind. Was nutzt es, wenn man sich 500.000 Euro für eine Maybach-Limousine zusammenspart, und dann ist die Garage um 2,20 Meter zu kurz? 
Nein, nein, Passgenauigkeit ist schon wichtig. Das ist mir noch einmal richtig klar geworden, als ich im Sportteil der Tageszeitung las: „Der dreimalige deutsche Meister im Springreiten, René Tebbel (39, Emsbüren), verzichtet auf die Titelverteidigung bei den deutschen Meisterschaften Anfang Juni, da er kein passendes Pferd hat.“
Ein weiser Mensch. Überlegen auch wir mal kurz: Wenn das Pferd zu breit ist, fällt man dauernd herunter, weil man sich mit den Beinen links und rechts nicht festhalten kann. Ist das Pferd zu schmal, hält man den gesamten Umlauf nur unter Pein durch, zumal als Mann. Ist das Pferd zu hoch, kann man nicht aufsteigen. Ist es zu niedrig, erreichen die Füße des Reiters den Boden und er muss selber springen und das Pferd dabei mit über den Oxer hieven. Ist das Pferd zu kurz, steht der Sattel hinten über und von Stabilität kann keine Rede mehr sein; ist das Pferd zu lang, passt es spätestens in der Dreierkombination nur noch quer zwischen die Hindernisse. Dann ist an einen ordnungsgemäßen Sprung überhaupt nicht zu denken.
Nein, nein, Herr Tebbel hat genau richtig entschieden. Das muss man sich nicht antun. Da haben die Damen schon Recht: Passen muss es.

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© Julius Moll

Das Ei des Bocuse


Kennen Sie das? Sie schrecken nachts schweißgebadet aus dem Schlaf hoch, weil plötzlich ein gewichtiges Problem auf Ihrer Bettdecke hockt und Ihnen den Atem nimmt? Nicht so etwas Triviales wie: „Oje, der Erdbeerjoghurt hat um Mitternacht sein Verfallsdatum überschritten.“ Nein, wirkliche Probleme. So zum Beispiel, wenn Ihnen Ihre Frau/Sozialpartnerin/Lebens-abschnittsgefährtin nachmittags eröffnet, dass sie am Abend eine Geschäftsfreundin oder gar die Chefin mit nach Hause bringen wird und von Ihnen erwartet, dass Sie etwas Köstliches zaubern, damit die zwischenmenschlichen Beziehungen gedeihen. Kaum ist die Dame eingetroffen, lässt sie beiläufig fallen, dass ihr Lieblingsgericht „Oeuf d’ur mayonnaise“ sei, was Sie als weltläufiger und gebildeter Hausmann sofort als „Ei, hart gekocht, mit Majonäse“ identifizieren. Ein Blick in den Kühlschrank genügt, um Ihnen den Ernst der Lage klar zu machen: Es gibt nur noch ein einziges Ei! Da es selbstverständlich ist, dass Sie die Majonäse keinesfalls aus einem gekauften Glas entnehmen werden, um den Gast nicht durch mindere Qualität zu verschrecken, stehen Sie nun vor dem Dilemma: „Schlage ich aus dem Eigelb die Majonäse oder überführe ich es in den hart gekochten Zustand?“
Hier nun findet die gepeinigte Seele Trost in den Segnungen einer Wissenschaft, die ihre Protagonisten – allen voran Hervé This-Benckhard – als „Molekulargastronomie“ bezeichnen. Hierbei handelt es sich um das grundlegende Verständnis der biochemischen und physikalischen Prinzipien, die während der Zubereitung Gaumen umschmeichelnder Köstlichkeiten dazu führen, dass das Endergebnis die Mühen rechtfertigt.
Aber was hat das mit dem erwähnten einzelnen Ei zu tun? Nun, Majonäseliebhaber werden wissen, welche Zutaten man für eine selbst gerührte Majonäse verwendet. (Andererseits gibt es auch das Gerücht, dass diejenigen, die wissen, wie Majonäse gemacht wird, nie mehr welche essen – aber das ist ein anderes Thema.) Zur Zubereitung benötigt man ein oder mehrere Eigelb sowie Senf und etwas Zitronensaft (Essig geht auch) sowie eine Menge Pflanzenöl. Diese Mischung wirkt auf fettbewusste Esser naturgemäß abschreckend, aber das soll uns nicht weiter stören. Nachdem man Eigelb, Senf und Zitronensaft vermengt hat, schüttet man unter Kräfte zehrendem Rühren den Rest des Öls langsam hinzu, bis sich die bekannte und beliebte cremige Masse bildet. Frisch gemacht schmeckt dies natürlich viel besser als das, was man an der Würstchenbude als Beilage zu Bottroper Schlachtplatte bzw. Prionenschlauch mit Pommes – vulgo: Currywurst mit Fritten – angeboten bekommt.
Einschlägige Kochbücher geben gerne bestimmte Mengen von Eigelb, Saft und Öl an, die man vermengen sollte, damit die elende Rührerei auch zu einem befriedigenden Ergebnis führt. Das Problem besteht nämlich darin, dass man eine wässrige mit einer öligen Flüssigkeit mischen will. Man ahnt sofort, dass das normalerweise nicht gehen kann, denn eine solche Emulsion müsste sich in kürzester Zeit wieder in die beiden Phasen Fett und Wasser trennen. Ausgeschlossen, dass Sie bei Ihrem Gast punkten könnten, wenn sich nach dem Servieren plötzlich eine widerliche Öllache neben den Überresten der gerade noch so nett anzusehenden Majonäse abschiede.
Dass dies nicht passiert, liegt an den Lecithin-Molekülen im Eigelb. Diese Moleküle (die genaue biochemische Bezeichnung lautet: Phosphatidylcholin) haben bestimmte physikochemische Eigenschaften. Die, die uns hier am meisten interessiert, ist die der Amphipathie, was bedeutet, dass ein Lecithinmolekül einen Wasser liebenden und einen Fett liebenden Teil besitzt. Damit ist es in der Lage, mit einer Hälfte in einem Wassertröpfchen zu stecken und mit der anderen im Pflanzenöl – mit anderen Worten: es wirkt wie ein Vermittler zwischen den unverträglichen Welten des Wassers und des Fettes, vergleichbar mit dem Ringrichter eines Boxkampfes, der während der Urteilsverkündung die Hände von Evander Holyfield und Mike Tyson hält. Wenn Sie die Lecithine nun nicht im Stich lassen und die Emulsion mit dem Schneebesen kräftig schlagen, zerteilen Sie die Wasser- und Öltropfen immer weiter, und wenn sie klein genug sind, kann man sie mit dem bloßen Auge nicht mehr erkennen. Ergebnis: eine wunderbar glatte und homogene gelbe Masse, die nach Majonäse schmeckt. Übrigens: Physik ist eine Multikulti-Angelegenheit, und deshalb haben griechische Köche das gleiche Problem, wenn sie aus Fischrogen Taramas anrühren, nur, dass da die Eier viel, viel kleiner sind (dafür sind es aber deutlich mehr).
Zurück zur Majonäse: Wenn Sie nun zuviel Öl hineinschütten, dann reichen die Lecithinmoleküle des Eigelbs nicht aus, und als Resultat schwimmen Fettaugen in der Creme (man darf gar nicht daran denken!). Also ist die Frage: Wie viel Lecithin hat ein durchschnittliches Eigelb, und wie viel Öl kann man damit aufschlagen? Kluge Köpfe, allen voran Harold McGee, ein Feinschmecker und fantasiereicher Molekulargastronom, haben das durchgerechnet und kamen zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass man mit einem Eigelb unter optimalen Bedingungen rund 20 Liter Majonäse herstellen kann (in Worten: zwanzig!). Einmal abgesehen davon, dass niemand 20 Liter Majonäse essen kann, keimt bei dieser Erkenntnis die Hoffnung auf, dass auch wir mit nur einem einzigen Ei im Kühlschrank noch nicht verloren sind, denn offensichtlich reicht uns für den einen popeligen Gast eine recht kleine Menge Lecithin zur Herstellung einer ausreichenden Menge Majonäse, und wir können uns eine pfiffige Lösung ausdenken.
Der erfahrene Hausmann hat sich für diesen Trick am Rande der letzten Prostata-Vorsorgeuntersuchung von seinem Arzt eine Spritze mit Kanüle aushändigen lassen. Mit einer dünnen Kanüle, füge ich hinzu. Die Größen werden in „Gauge“ angegeben, und je größer der Wert, desto dünner die Kanüle. Für unsere Zwecke wäre eine 25-Gauge-Kanüle sehr hilfreich. Diese führen wir nun durch die Schale vorsichtig in das Ei ein und entnehmen so etwa 500 Mikroliter des Eigelbs. Das ist ein halber Milliliter (ein normales Schnapsglas fasst 20 Milliliter Obstler). Aus dieser Menge Eigelb und dem darin enthaltenen Lecithin können wir nun leicht einen Viertelliter Majonäse herstellen. Wer es ausrechnen möchte: Ein normaler Eidotter hat ungefähr einen Durchmesser von 2,5 cm. Der Radius beträgt also 1,25 cm, und das kann man in die Formel 4/3 · π · r3 einsetzen, um das Volumen zu berechnen. Ergebnis: ein normaler Eidotter entspricht ungefähr 8 Milliliter).
Und nun der Pfiff des Ganzen: Wenn wir die 500 Mikroliter entnommen haben, kochen wir das übrig gebliebene Ei, bis es hart ist, und die geschäftliche Verbindung Ihrer Frau ist gerettet!

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©Julius Moll

Kanonenmeteorologen am Jangtsekiang

Während die Welt nach Tibet blickt und dabei die Stirn runzelt, während die Wirtschaftsführer der westlichen Welt ihre Unternehmen verbissen in und um Shanghai zu etablieren suchen, wo Reichtum und Ruhm winken, plagen sich die gewöhnlichen chinesischen Menschen mit ganz anderen Sorgen. Nein, damit ist nicht die Ausmerzung von Chinglish gemeint, dem bezaubernden Mischmasch aus Chinesisch und Englisch – als Beispiel sei hier ein Klassiker genannt, nämlich die Warnung vor dem glatten Untergrund: "Take care of your slip!"
Nein, nein, nicht nur um derartige Dinge geht es, sondern um wirklich ernste. Zumindest, wenn wir nach Luoyang blicken, einem Ort in der Provinz Henan. Dort leidet man unter der großen Zahl lästiger Fliegen, die noch größer ist als die Zahl der Chinesen. Und das will ja bekanntlich etwas heißen.
In Luoyang hat sich die örtliche Verwaltung entschlossen, das Problem anzupacken, indem sie ein Bürgerkomitee gewähren lässt. Dieses Komitee bietet jedem 5 Yuan, also rund 40 Cents, der zehn tote Fliegen vorweist. Seither ziehen Horden fliegenmordender Einwohner durch den Ort und versuchen, ihr Einkommen aufzubessern. Immerhin: In den ersten zwei Stunden der Kampagne musste das Komitee bereits eine deutliche Summe locker machen, denn mehr als 2000 Fliegenleichen wurden angeliefert, und das macht nach Adam Riese – oder hier besser: nach Liu Hui – mehr als 1000 Yuan. Aus der Ferne betrachtet stellt sich die Gesamtsituation für die Fliegenpopulation rund um Luoyang nicht sehr rosig dar.
Apropos aus der Ferne.
Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich persönlich hege inzwischen eine solide Abneigung gegen Kochsendungen im Fernsehen. Nicht etwa, weil ich sie langweilig oder schlecht gemacht fände; nein, sondern weil alle anderen diese organisierte Speisenvernichtung offenbar gut finden, während ich nicht verstehe, warum ich anderen Menschen beim Kochen oder gar beim Essen zusehen sollte. 
Nun höre ich hin und wieder, dass man da etwas lernen kann und dass einem das im Leben hilft. Und damit kommen wir wieder nach China. In der Gegend von Cangxian stand eine Hausfrau am Herd, um das Abendessen zuzubereiten – und zwar ohne Fernsehkamera. Dabei wurde sie von einer Kanonenkugel verletzt. 
Zurücklesen nutzt übrigens nichts. Da stand eben wirklich: Kanonenkugel. Wie es dazu kommen konnte? Ich meine: das mit dem Kochen unter Beschuss? Nun, sicher ist, dass die Kanonenkugel durch das Dach des kleinen Hauses in die Küche eindrang und die Frau am Bein verletzte. Wenn irgendwo in der Nähe ein Krieg ausgebrochen wäre, hätte man dieses Phänomen sicher schneller durchschaut. Aber Cangxian ist nicht Tibet – keine Schießereien weit und breit. 
Verblüffenderweise wurden die Schuldigen recht flott gefunden: Eine Gruppe örtlicher Meteorologen. Ja, richtig: Meteorologen. Hier bei uns macht sich diese Berufsgruppe höchstens dadurch unbeliebt, dass sie so tut, als könne sie das Wetter vorhersagen. In Cangxian allerdings gingen die Wetterfrösche weiter: Sie feuerten aus Kanonen auf Wolken, um diese zu Abregnen zu bewegen.
Zugegeben: Das klingt zunächst ein wenig wirr. Nun haben Forscher allerdings kürzlich herausgefunden, dass entlang viel befahrener Schifffahrtsrouten sehr viel Schwefeldioxid in der Luft ist. Immerhin enthält Schiffstreibstoff 2700 mal so viel Schwefel wie Autobenzin. Dadurch kondensiert das Wasser anders; die Wolken können mehr und länger Wasser halten, aber wenn sie dann abregnen, gehts auf einen Schwung, so als würde man einen riesigen Wassereimer umkippen. Auch solche Wolken werden gerne mal durch die Erzeugung von künstlichen Kristallisationskeimen zum Abregnen gebracht, und zwar dann, wenn gerade keiner in der Nähe ist, der komplett nass werden könnte. Das funktioniert unter anderem auch dadurch, dass man Projektile in die Wolke feuert.
So weit, so gut. Aber was ist dann in China schief gelaufen? Vermutlich hat irgendein junger unerfahrener Ingenieur die Nerven verloren. Weil die Wetterkanone nahe dem Wohngebiet abgefeuert werden sollte, hatte der alte Meteorologenmeister eine Spezialkanone konstruieren lassen: Unten im Rohr gab es eine starke Feder, und wenn man die Kugel genau senkrecht nach oben abfeuerte, konnte sie nach der Aktivierung der Wolke wieder zurück ins Rohr fallen. Sie war damit geeignet zum Abfeuern in belebten Gebieten. Aber der junge Ingenieur, wie gesagt: Kurz vor dem Schuss befielen ihn nagende Zweifel – und ein ganz klein wenig Angst war auch dabei. Als niemand hinsah, tippte er mit dem Zeigefinger kurz an das senkrecht nach oben zeigende Rohr, um es ein wenig zu neigen und dafür zu sorgen, dass die Kugel möglichst weit von ihm entfernt einschlage. Wir kennen das Resultat bereits.
Vielleicht hätten sich die Meteorologen besser in Luoyang gemeldet und mit ihrer Kanone Fliegen totgeschossen. Dann hätten sie auch noch Geld dafür kassiert.

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© Julius Moll

Wild Thing

„Wild thing, you make my heart sing!“ 
Aus dem Etablissement dröhnten die ersten Karaoketöne des Abends heraus auf die Terrasse. Dort saß ich mit Heinz, einem deutschen Ingenieur, der bei der NASA arbeitete. Deutsche Ingenieure bei der NASA: Das hatte ja irgendwie Tradition.
Ein wunderbarer Tag neigte sich seinem Ende zu. Zweiunddreißig Grad im Schatten, wenn denn überhaupt irgendwo Schatten gewesen wäre, dunkelblauer Himmel. Das Spaceshuttle war vor ein paar Stunden gestartet, und während Heinz und ich damit beschäftigt waren, den Inhalt eines Pitchers mit einem amerikanischen Bier-Imitat in uns hineinzuschütten, sahen wir dem NASA-Frachter zu, der die beiden abgebrannten Feststoffraketen der Atlantis nach Port Canaveral zurückbrachte. Wie gesagt: ein wunderbarer Tag.

Als sich im Inneren der Kneipe eine Damencombo an „Oops, I did it again!“ versuchte, machte Heinz den dringenden Vorschlag, dass wir uns an einen anderen, gemütlicheren Ort verholen sollten. Mitunter ging der Seglerjargon mit ihm durch, aber ich wusste, was er meinte. Also machten wir uns auf den Weg zu seinem alten Oldsmobile, und knapp zehn Minuten später erreichten wir einen Ort der Subkultur, wobei man hier jetzt nicht diskutieren muss, ob eine Subkultur das Vorhandensein einer Kultur zwingend voraussetzt.
Der nämliche Ort befand sich auf der anderen Seite des Hafenbeckens von Port Canaveral, dort, wo abends die Fischer mit ihrem Fang anlegten. Am Ende des Kais gab es neben einer alten Lagerhalle eine strohgedeckte Hütte, oder besser gesagt: eine überdachte Holztheke. Da tauchte am frühen Abend immer eine junge Dame auf, begleitet von mehreren Kühltaschen, gefüllt mit Bier- und Coladosen. Amerikanisches Kleinunternehmertum vom Feinsten. Und da sie ihrem Geschäft bei Wind und Wetter nachging, wussten die Seefahrer immer, wohin sie nach Dienstschluss gehen konnten, um das Meersalz von den Geschmacksknospen zu spülen.
Und wie das so ist: Wenn sich ein Unternehmen erfolgreich ansiedelt, folgen andere. Heinz dirigierte mich umgehend zu der Lagerhalle. An der Frontseite führte eine Holzstiege hinauf ins Obergeschoss. In einem Raum, in dem früher wohl der Hallenaufseher gehaust hatte, wurden gargekochte Meeresfrüchte offeriert. Heinz orderte mehrere Portionen Krebsfleisch, randomisiert angeordnet auf Papptellern. Als Stammgast wusste Heinz, wie man weiter vorging: Er ging zu einem der roh gezimmerten Holztische, rollte einen Meter Papier von einer bereitliegenden Resterolle ab und verwandelte ihn in die Illusion einer Damasttischdecke. Und kurz darauf erwies sich auch meine Unsicherheit bezüglich fehlenden Essbestecks als unbegründet: An jedem der Tische hingen kleine Holzhämmer an Sisalfäden. Heinz griff sich einen und begann, die Krustentierteile in genießbare Einheiten zu zertrümmern. Der Geschmack passte überhaupt nicht zum Ambiente: Er war grandios! Selten habe ich besseres Krebsfleisch gegessen.

Getränke gab es allerdings nicht. Die gab es unten am Unterstand. Dort waren inzwischen einige Boote eingelaufen, und es begann der Wettbewerb „Wer hat den längsten … äh … Fisch?“ Dazu stellten sich die stolzen Seefahrer mit ihrer Beute neben einer Messlatte auf, und die umtriebige Wirtin schoss Aufnahmen mit einer Digitalkamera.
Heinz bestellte zwei Dosen Bier. Neben uns waren ein paar Männer damit beschäftigt, einen kleinen Eisenring an einem Pendel so in Bewegung zu setzen, dass er einen Nagel in einem Holzbalken traf. Wer es schaffte, kriegte eine Dose Bier.
Einer der Männer hatte ein größeres Bündel tote Fische neben sich liegen, alle so zwischen 30 und 40 Zentimeter groß. Als er mit dem Eisenring auf den Nagel zielte, sagte Heinz: ”Dein Abendessen?“ und deutete auf die Fische.
Käpten Ahab stutzte kurz. „Witzbold! Die fresse ich zum Bier.“
„Was denn, roh?“
Irgendwie gefiel mir das Leuchten in Heinz’ Augen nicht so recht.
„Na klar, roh! Wie denn sonst?“ lachte Ahab.
„Glaub ich nicht.“
Mir stockte der Atem. Die Jungs hier sahen nicht so aus, als seien sie ausschließlich zu Späßen aufgelegt.
Ahab ließ den Arm mit dem Eisenring langsam sinken und musterte Heinz mit dem Blick einer hungrigen Aspisviper. „Wie war das?“
„Glaub ich nicht“, wiederholte Heinz. Ihn schien die Situation nicht zu beunruhigen.
„Fünf Dollar, und ich zeig dir, wie ich die Viecher immer fresse!"
Mit einem kurzen Knall pfefferte Heinz einen Fünf-Dollar-Schein auf die Holztheke. Weiß der Kuckuck, wo er den so schnell hergeholt hatte.
Ahab wunderte sich darüber keine Sekunde lang. Er ließ den Ring fahren, griff sich einen der Fische und biss ihm nachdrücklich den Kopf ab. Nachdem er zwei bis drei Mal gekaut hatte, sah er Heinz triumphierend an. Und nicht nur er. Zwischen seinen Lippen hingen die beiden Fischaugen heraus und glotzten Heinz ebenfalls an.
Der grinste. „Nicht schlecht.“
„Noch mal fünf Dollar, und ich schluck’s runter“, bot Ahab mühsam artikulierend an.
Heinz brauchte fünf Millisekunden, um den zweiten Schein auf die Theke zu hauen.
Ahab begann das abstruse Werk.
Währenddessen sagte einer seiner Kumpane: „Wenn du mir auch fünf Dollar gibst, hau ich ihm eine auf die Schnauze, damit er schneller schluckt.“
Er hatte den Satz noch nicht beendet, da lag der Schein schon bereit. Und ebenso schnell kam Ahab in den Genuss der essunterstützenden Maßnahme.
Jemand anderes sagte: „Die Idioten sollte mal jemand zur Ordnung rufen!“ – und zack! lag der nächste Schein auf dem Tisch.
Fünf Minuten später war Heinz weitere acht Scheine los und die Szenerie glich dem Vorhof zur Hölle. Heinz zog mich am Ärmel hinter sich her zum Auto. Als er Gas gab, sagte er: „An dem Punkt sollte man besser gehen, da wird es ungemütlich.“
Ich war fassungslos. „Woher weißt du das?“
„Mach ich einmal die Woche. Ist doch lustig, oder?“
Ermattet sank ich im Beifahrersitz zusammen. Fünf Dollar! Da fragte man sich, wieso sich der amerikanische Verteidigungsetat der Billionengrenze näherte, wenn man mit Fünf-Dollar-Portiönchen ganze Gesellschaftsstrukturen destabilisieren konnte.
Als wir zur Karaoke-Bar zurückkehrten, intonierte ein Jungmännerchor gerade „Money for nothing“ von den Dire Straits. Das konnte ja noch heiter werden heute Abend.

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© Julius Moll

Pecunia olet.

Fremde Länder, fremde Sitten: ein Axiom für Weltreisende, Abenteurer, Wissbegierige, Empörte und Arrogante. Aber wir wollen es nicht klein reden. Natürlich ist es spannend, wie sich die Kulturen rings um die Welt entwickelt haben. Denken wir beispielsweise mal ans Essen, und zwar nicht nur deshalb, weil zurzeit im Fernsehen ausschließlich gekocht wird. Dass wir bis an die Zähne bewaffnet sind, wenn wir uns an den Tisch setzen, mit kleinen vierzackigen Hellebarden und Messern aus Metall, hat sich als Prinzip in vielen asiatischen Ländern nicht durchgesetzt. Dort ist man als Gastgeber froh, dass die Gäste den Speisen mit hölzernen Stäbchen zusprechen, und macht sich daher auch gerne die Mühe, das Essen vorher in mundgerechte Stücke zu zerteilen – eine Art Service zum Selbstschutz.
Bei Besitz, Geld und Macht allerdings verschwimmen die kulturellen Unterschiede schon eher. Und die Ideen, wie man seine eigene ökonomische Situation möglichst günstig gestaltet, ähneln sich daher. Das Grundübel besteht ja zweifellos darin, dass man sich sein Geld nicht selber herstellen darf. Das ist zwar rational begründbar, weil es einen Gegenwert für die umlaufenden Zahlungsmittel geben muss. Sonst wären sie selber nichts wert. Und so gibt es im Idealfall eine relativ stabile Gesamtgeldmenge, die irgendetwas Realem gegengerechnet werden kann, im Falle des Dollars beispielsweise dem Gold in Fort Knox und im Federal Reserve Depository in New York. Und so sinnvoll diese volkswirtschaftliche Konstruktion auch sein mag, hat sie doch einen Nachteil: Wenn jemand sein eigenes Geld vermehrt, muss es gleichzeitig jemanden geben, dessen Vermögen dadurch verringert wird.
Es wird daher auch kein Zufall sein, dass das lateinische Verb privare auf deutsch rauben heißt. Ein kleiner Schritt für einen sorgfältig gebildeten Menschen, daraus zu schließen, dass Privateigentum zu Stande kommt, indem der Eigentümer die Gemeinschaft beraubt. Und dass man den Spieß auch umdrehen kann, falls sich die eigene Liquidität einem untolerierbar niedrigen Wert nähert.
Und genau auf diesem Pfad der intellektuellen Untugend wandelten auch zwei Studenten in der chinesischen Stadt Chongqing. Da sie die Schwierigkeiten bei der Finanzierung ihres Lebensunterhalts als schwerwiegend einstuften, entschlossen sie sich zum Handeln. Sie stahlen ein Fahrrad und unternahmen damit ihre Beutezüge, indem sie in der dicht bevölkerten Innenstadt an Passanten vorbeifuhren, einer auf dem Sattel, einer auf dem Gepäckträger, und ihren Mitbürgern leichtfertig mitgeführte Taschen und Pakete entrissen und damit flohen.
Irgendwann muss den Räubern aufgegangen sein, dass zufallsmäßiger Raub nicht immer zu befriedigenden Ergebnissen führt. So beklagten die Beraubten etwa den Verlust von einem rohen Fisch, gerade auf dem Markt gekauft, von einer Papiertüte mit einigen Haarspangen, von einem Beutel mit schmutziger Unterwäsche sowie von einer in Leder eingeschlagenen Katzenleiche, die der trauernde Besitzer eigentlich am Rande eines städtischen Parks beisetzen wollte.
Die beiden Verbrecherhirne taten daher das einzig Logische: Sie änderten ihre Taktik und nahmen sich vor, bei der Auswahl ihrer Opfer selektiver vorzugehen. So lauerten sie mit ihrem Fahrrad an der Ecke einer Sparkasse, in der keineswegs so falschen Annahme, dass Menschen, die aus der Bank heraustraten, durchaus größere Geldbeträge mit sich führen könnten.
So war also die Situation, als Li Ming aus der Bank auf die Straße trat. Die alte Dame war in Begleitung ihres Hundes Changchang, einem gepflegten Pekinesen, und trug am Arm eine große Handtasche. Der Anblick dieser Handtasche befeuerte die Fantasie der Fahrradgangster derart, dass sie wie vom Katapult geschossen auf die Ärmste zuradelten. Der Handlanger auf dem Gepäckträger fischte mit hundertmal geübter Bewegung das größte Paket aus der Tasche, und nach einem Wimpernschlag waren die Meisterdiebe verschwunden.
Wer nun denkt, Frau Li Ming wäre lamentierend und in Tränen aufgelöst auf dem Bürgersteig in sich zusammengesunken, der irrt. Ganz im Gegenteil: Auf ihrem Gesicht machte sich große Freude breit, und bald begannen auch die umstehenden Passanten, sich gegenseitig erheitert in die Arme zu fallen, um sich beim Lachen zu unterstützen.
Was die Fahrraddiebe nämlich nicht wussten: Als Frau Li am Bankschalter in der Reihe wartete, hatte sich Changchang, der Pekinese, nur angekündigt durch ein überstürztes kurzes Bellen, seines Stuhlgangs entledigt. Um den Zorn der anderen Bankkunden zu mildern, hatte sich Frau Li von einem Bankangestellten einige Blätter der Tageszeitung erbeten, um den Hundekot damit aufnehmen und entsorgen zu können. Allerdings hatte der Angestellte darauf hingewiesen, dass er es keineswegs dulden könne, wenn sie das olfaktorisch bedenkliche Gebinde in einem Papierkorb innerhalb der Bank deponiere. So hatte Frau Li das Paket in ihre Handtasche gelegt, um es bei der erstbesten Gelegenheit draußen loszuwerden.
Inzwischen wissen sicher auch die beiden Raubstudenten, dass die Weisheit "Pecunia non olet – Geld stinkt nicht" in speziellen Fällen keine Gültigkeit mehr hat.

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Therapeutische Anschläge

Ja, muss man denn wirklich immer in die Ferne schweifen, um stimulierende Eindrücke zu sammeln? Nein, muss man natürlich nicht. Man kann, aber man muss nicht. Zudem ist "Ferne" ebenso relativ wie alles andere in diesem Universum. Geht man beispielsweise zu Fuß von Köln nach Bonn, ist es recht fern. Fährt man dagegen mit dem Auto von Köln in Richtung Süden, hat man Mühe zu merken, dass da überhaupt eine Stadt ist.
Aber ich schweife ab. Der oberbergische Kreis ist nicht wirklich weit entfernt von Köln. Dort gibt es einen Flecken namens Rebbelroth, gelegen zwischen Derschlag und Dieringhausen. Zugegeben: Man muss diese Orte nicht kennen; zusammen sind sie etwa halb so groß wie der Friedhof von Chicago. Aber dann läuft man eben Gefahr, wirklich wichtige Erkenntnisse zu verpassen.
In Rebbelroth findet sich nämlich neben der Ausfahrt des örtlichen Supermarktes etwas fundamental Beeindruckendes: eine "Anschlagsäule für Jedermann". Als ich die Säule erstmals sah, war ich mir sofort der glücklichen Fügung bewusst: Die Säule war unversehrt, und das bedeutete, dass in letzter Zeit niemand einen Anschlag verübt hatte.
Die tiefe philosophische Einsicht dieses nachahmenswerten Plans der örtlichen Verwaltung lässt einen in stille Andacht verfallen. Aggressionsableitung als Prophylaxe, um Schlimmeres zu verhindern: allein als Idee lobenswert, hier aber zudem noch brillant umgesetzt. Wem schwillt nicht hin und wieder der Kamm? Praxisgebühren, Benzinpreis, Irakkrieg, Umweltverschmutzung, Flughafengebühren, Ozonloch, Kapitalismus, Kommunismus, Raucher, Nichtraucher, Atomkraftwerke, Windräder, Kölner, Düsseldorfer, Moscheen, Sonntagmorgenglockengeläut – es gibt immer etwas, was einen auf die Palme bringen kann. Warum dann gleich in den Extremismus abgleiten? Da reicht es doch völlig aus, wenn man die nächste Anschlagsäule in die Luft jagt. Niemand wird verletzt, und die Dinger können umgehend und preiswert ersetzt werden, damit sie dem nächsten unzufriedenen Mitbürger zur Verfügung stehen.
Natürlich wäre Anleitung von Nöten. Dabei könnten auch Varianten dieses Modells vermittelt werden. Volkshochschulen könnten Praxisseminare für stark Unzufriedene anbieten, in denen alte Autos mit Nagelbomben vollgepackt werden – ohne Zünder, versteht sich –, um diese dann in irgendeiner Innenstadt abzustellen. Da wäre dann zumindest der seelische Druck weg, dass man nichts getan hätte, um sich zu artikulieren, aber niemand käme zu Schaden. 
Und warum ins Auto oder Flugzeug stürzen, wenn man denkt, man sei komplett urlaubsreif? Wenn in jeder größeren Ortschaft eine Art Sandkasten mit Strandkorb und einer Tasse Sangria bereitstünde, würde das die Touristenscharen deutlich dezimieren helfen. Niemand mehr müsste gleich den erstbesten freien Tag opfern, um nach Mallorca zu jetten.
Während ich diese tief schürfenden Gedanken in die Tastatur tippe, schimpft drei Meter hinter mir auf einem Zweig Frau Rotkehlchen. Den Ton kenne ich. Den schlägt sie immer an, wenn ihr Gatte nicht genug Futter heranschaffen hilft. Und ihn habe ich in der letzten Stunde weder gesehen noch gehört. Vermutlich hängt er mit Herrn Meise an irgendeinem Rinnsal herum und pfeift irgendwelchen Bachstelzen nach, dieser Tunichtgut. Die Schimpfkanonade seiner Gattin wird intensiver. Vermutlich hätte auch sie gerade eine Verwendung für eine Anschlagsäule.
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Im Zeichen der Gehörnsäge

Dreizehntausend ist eine durchaus imponierende Zahl. Man versuche sich vorzustellen: 13.000 Paar Schuhe im Schrank, 13.000 Pickel im Gesicht, 13.000 Mücken im Schlafzimmer – im Grunde genommen recht überwältigend. Bei 13.000 Sandkörnern oder 13.000 Euro relativiert sich das Ganze ein wenig, wenn man eine Sandburg oder ein Haus bauen will. Bei 13.000 Menschen kommt man schon wieder ins Grübeln. So viele gehen aber immerhin in die Fankurve eines anständigen Fußballstadions.
Warum ich mich auf die 13.000 kapriziere? Nun, die Hauptstadt von Süd-Dakota heißt Pierre und hat diese Zahl an Einwohnern. Eine einzige Fankurve als Hauptstadt – welch deprimierende Vorstellung! Das kann aber unmöglich der einzige Grund sein, warum Pierre vor einigen Jahren als „Suicide City“ betitelt wurde: Die Selbstmordrate hatte bedrohliche Werte erreicht. Sucht man nach Gründen, wird man schnell fündig und kann sich kaum entscheiden, welcher der gewichtigste sein könnte.
Zwei Kandidaten stehen sicher in der engen Wahl. Zunächst einmal gibt es in Pierre ein State Capitol; es sieht aus wie das Capitol in Washington, ist aber dreizehntausendmal kleiner. Dort spielten sich schon früher deprimierende Dinge ab. Zunächst verlor Deutsch bei der Abstimmung über die Amtssprache mit einer Stimme gegen Amerikanisch, aber das mag man im vernetzten elektronischen Zeitalter ja gerne verschmerzen. Weitaus deprimierender ist ein großer Vitrinenschrank im ersten Zwischengeschoss. Dort sind Miniaturroben ausgestellt. Es handelt sich um die handgefertigen Kleinreplikas der Abendkleider, die die Frauen der jeweiligen frischgewählten Gouverneure bei der Amtseinführung ihrer Gatten trugen. Vermutlich waren alle Einwohner Pierres an der Herstellung dieser Kleinode beteiligt, manche sicher zwangsweise. Ich denke da an den männlichen Teil der Bevölkerung, der sonst am nahe gelegenen Lake Oahe im Sommer mit Fischen und im Winter mit Eisfischen reichlich zu tun hat.
Gleich in der Nähe von Pierre liegt die imaginäre Linie, die die Central Time Zone von der Mountain Time Zone trennt. Wenn man da auf der falschen Seite des Sees fischt, ist man ruckzuck eine Stunde später daheim, wenn man nicht aufpasst. In der Zeit hätte schon eine weitere Rüsche eines Mini-Abendkleides fertig sein können.
Zieht man die einzig vernünftige Konsequenz und verlässt Pierre mit dem Auto Richtung Norden, so beginnt man nach 50, 60 Kilometern die 13.000 Zurückgelassenen zu vermissen, denn die einzigen Lebewesen, die man hin und wieder zu Gesicht bekommt, sind braun und tragen Gehörn. Der erste Ort nach längerer Autofahrt heißt Onaida, und genau so sieht es dort auch aus. Zur Ermittlung der Einwohnerzahl muss man 13.000 durch 100 teilen, wenn Sie wissen, was ich meine.
Einsame Kilometer weiter taucht wieder ein Schild aus dem Bodennebel auf: Agar, Population: 82. Die sind wenigstens ehrlich. Wie oft sie die Einwohnerzahl korrigieren, weiß man nicht. Aber sie kann unmöglich ständig bei 82 liegen. Ich habe dennoch angehalten – und wenn ich erkläre, warum, wird man vermuten, dass ich zu lange in der Gegend geblieben bin, um ohne geistige Beeinträchtigung heimkehren zu können.
Vielleicht sollte ich zur Erhöhung der Pointe zunächst darauf hinweisen, dass es Winter war in Süd-Dakota. Das ist noch deprimierender, als man zunächst glauben mag. Dadurch wird aber erklärlicher, dass ich an eine Art von Einsamkeitshalluzination glaubte, als hinter einer Schneeböschung ein Straußenkopf auftauchte und mich neugierig beäugte. Da hätten Sie auch angehalten und wären die paar Schritte die Böschung hochgeklettert, geben Sie's ruhig zu! Ich kannte zwar die Regel „Wo man zehn Mäuse sieht, sind noch hundert andere“, aber die Regel „Wo dich ein Strauß anblickt, sind noch tausend andere“ kannte ich bis dato nicht.
Mitten im Winter! Die armen Vögel. Als sie mich bemerkten, kamen sie alle – ich wiederhole: alle! – auf mich zugerannt; und ich vermute, Sie ahnen, was das bei Straußen heißt. Verdenken konnte ich es ihnen nicht: Vermutlich war ich außer ihrem Herrchen der erste Mensch, den sie seit Jahren zu Gesicht bekamen.
Wegen des lauten Straußengalopps tauchte auch bald der besorgte Straußenbesitzer auf, der natürlich eine Flinte in Händen hielt. Da ich keinen Laufkorken bei mir trug, um ihn vorne hineinzustecken, damit sich der Schuss nach hinten löse, wurde mir durchaus mulmig. Glücklicherweise stellte sich früh genug heraus, dass der besorgte Vogelhändler deutsche Vorfahren hatte und daher keine direkte Veranlassung mehr sah, einen – ja, wie nennt man das in diesem Falle: Stieflandsmann? Schwiegerlandsmann? Na, ich weiß nicht! – Menschen zu treffen, der so sprechen konnte wie sein Vater (der Herr habe ihn selig).
Bei einer heißen Ovomaltine erzählte er mir, dass er außer Straußenzüchter auch noch Jäger sei. Da gebe es genug Arbeit in dieser Gegend. Sein Waffenschrank hatte die Ausmaße einer Kölner Eigentumswohnung. Auf dem Couchtisch lag ein Katalog für Jägerbedarf, in deutscher Sprache von einem deutschen Händler. Arthur, so hieß der Oberstrauß, dachte gerade über die Anschaffung eines Wildkühlschranks nach. Zunächst verstand ich das Wort nicht auf Anhieb und hätte schwören können, dass er „Wildkühlschrank“ gesagt hatte. Wie sich herausstellte, hatte ich ihn richtig verstanden. Begeistert zeigte er mir den Artikel im Katalog. Tatsächlich, ein Wildkühlschrank! 
„Elektrolux Umluft-Wildkühlschrank – Zur schnellen Abkühlung von zwei Stück Rehwild oder einem Stück Schwarzwild (bis ca. 65 kg) nach den Vorschriften der Fleischhygieneverordnung. Temperaturbereich von 1° bis 12°C. Bruttoinhalt 368 Liter. Wechselbarer Türanschlag. Abschließbar. Mit Laufrollen und verstellbaren Füßen. Innenbeleuchtet. Wildgehänge mit zwei Schiebehaken und 4 Regalböden. FCKW-frei. Außenmaße 59,5x59,5x185 cm, Innenmaße 52,5x48,0x160 cm (BxTxH). € 1070,–“
Die Angabe „mit Laufrollen“ fand ich besonders interessant. Bis dahin hatte ich ja gedacht, der ordentliche Waidmann habe das Gerät bei sich zu Hause im Keller stehen. Nun begann ich jedoch in Erwägung zu ziehen, dass man die Kiste während der Jagd hinter sich her ziehen könnte, um das Wild vor Ort zu kühlen. Allerdings gab es im gesamten Katalog keine einzige olivgrüne Wildkühlschrank-Tarnabdeckung, denn wenn man mit diesem riesigen weißen Ding im Wald auftaucht, lachen sich die Rehe ja einen Wolf! Meinen weiteren Einwand, dass man bei –15 Grad keinen Kühlschrank bräuchte, entkräftete Arthur mühelos: „Im letzten Sommer hatten wir fast 45 Grad im Schatten.“ Dann allerdings …
Nun hatte der Katalog noch mehr zu bieten; Dinge, an die ich vorher ehrlich gestanden noch nie gedacht hatte: „Gehörnsäge mit Abschlagevorrichtung und Rundstab-Sägeblattführung. Kein Verhaken und Verkanten der Säge. Das Sägeblatt bleibt dadurch länger scharf! Gleichmäßiger, glatter Schnitt, der nicht mehr nachbehandelt werden muss. Die Trophäe passt genau aufs Schild! Einstellmarkierung – dadurch exakte Einstellung des Schnittwinkels. Verzinkte Ausführung. € 39,95“ Und dazu noch den ergänzenden Artikel „Ersatzsägeblatt mit Griff, € 8,50“, der mich an den berühmten Katalogeintrag einer Antiquitätenauktion erinnerte: „Antikes Messer ohne Griff, dem die Klinge fehlt.“
Zugegebenermaßen war mir vorher auch nicht recht klar gewesen, dass man Wildteile nach dem Ermorden nicht einfach zu Trophäen zurechtsägen sollte, weil dann das anhaftende Restgewebe zu verwesen beginnt. Nein, nein! Doch die Lösung ist ja so einfach: „Abkoch-Vorrichtung für Trophäen – Zum sauberen, bequemen Abkochen von Reh-Gehörnen, Gamskrucken usw. Einfaches Anbringen durch gummiarmierte Halterung und Flügelschrauben. Stufenlose Verstellmöglichkeit in 4 Richtungen. Korrosionsgeschützt, die Armierung besteht aus wasser-, hitze- und fettbeständigem Spezialgummi. € 29,95“Darauf muss man erst mal kommen! Die Trophäenpräparation geht so zweifellos sehr leicht von der Hand.
Ich bin dann nach Norden weitergefahren. 
Da kommt man dann – Sie werden es ahnen – nach Nord-Dakota. Und wenn Sie wissen wollen, warum das die Gesamtsituation nicht verbessert, sehen Sie sich den Film „Fargo“ an. Ich versuche derweil mal herauszufinden, ob es auch fahrbare Bierkühlschränke gibt.
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Das Zufallsreisebüro

Als Harnfried den Vorschlag erstmals machte, war ich misstrauisch. Ein Zufallsreisebüro zu gründen war nichts, worüber ich vorher intensiv und lange nachgedacht hätte. Wieso auch? Wenn ich verreise, weiß ich eigentlich gerne, wohin. Aber auf den zweiten Blick gewann die Idee an Attraktivität. In einer Zeit, in der die Menschen gelangweilt vom Überfluss nach immer neuer und abenteuerlicher Kurzweil suchen, muss man auch mal unkonventionelle Geschäftsideen vorurteilsfrei prüfen.
„Und wie soll das genau funktionieren?“
„Ganz einfach: Wer eine Zufallsreise buchen will, sagt, wann und wie lange er verreisen will, und bezahlt. Art und Ziel der Reise wird dann mit einem Zufallsgenerator aus dem Gesamtangebot aller Reiseanbieter ausgesucht. Frei nach dem Motto: Wir buchen, Sie fluchen!“
Das hörte sich noch irritierender an, als ich zunächst gedacht hatte, und es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich seinem Drängeln nachgab. Hätte ich es besser nicht getan. Knapp drei Monate später hatten wir schon einen Sack voll Klagen am Hals.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Im Prinzip ist die Idee toll. Aber wir haben ein paar Anfängerfehler gemacht, die sich schnell rächen sollten. Da war zunächst das Rentnerehepaar, das von den jahrelangen, nein, jahrzehntelangen Urlauben in der holsteinischen Schweiz – Wassertreten in Malente, Pferdestallbesuche in Gremsmühlen und so weiter – genug hatte und auf die alten Tage noch mal in die Ferne schweifen wollte. Eine zweiwöchige Canyoning-Tour durch die Wasserfälle im Zentralkaukasus jedoch ging über ihre Kräfte und reaktivierte einen längst vergessenen Bandscheibenvorfall, hinter dem sich sogar der beidseitige Kreuzbandriss der Ehefrau verstecken konnte. Dass sie uns das Fehlen einer flächendeckenden medizinischen Versorgung anlasten wollten, nun ja, das spricht für sich selbst. Im Zentralkaukasus! Da gibt es überhaupt keine Häuser, um eine Arztpraxis unterzubringen, geschweige denn irgendwelche Straßen, über die der Arzt vom nichtexistenten Haus zu den Patienten gelangen könnte.
Im Falle des unter Asthma leidenden Mittvierzigers, der auf Rat seiner Schwiegermutter zunächst einen Aufenthalt in der Klutert-Höhle in Ennepetal buchen wollte, sind die Dinge dann zugegebenermaßen ein wenig aus dem Ruder gelaufen. Harnfried hatte sich alle Mühe gegeben, den Mann von der Idee des Zufallsreisens zu überzeugen, und im Grunde genommen offene Türen eingerannt. Vermutlich hatte der Ärmste genug von den Ratschlägen seiner Schwiegermutter. Und dann erwischte er diese wunderbare Zehntagesreise mit einer der herrlichsten Eisenbahnen der Welt – von Arica nach La Paz. Immer die Anden hinauf, bis auf fast 5000 Meter Höhe. Die Fahrt über die salzbedeckte Hochebene gehört zum Eindrucksvollsten, was man sich als Reisender erträumen kann – vorausgesetzt, man leidet nicht unter Asthma. Wenn die Waggons wenigstens Fenster gehabt hätten. Dann wäre dem Mann der scharfe, salzgesättigte, trockene Wind erspart geblieben, den die Einheimischen „La Lija de Dios“ nennen, das „Sandpapier Gottes“.
Sie werden fragen, warum wir nicht wenigstens dafür gesorgt haben, dass während des sechsstündigen Aufenthalts an der Station La Desesperación, malerisch mitten auf der Hochebene gelegen, ein Medikopter den Atemwegsgepeinigten aus der Höhe und den Klauen von La Lija de Dios errettet. Nun, das hat etwas mit Physik zu tun. In diesen Höhen tragen Hubschrauber nur mehr bedingt. Krankenwagen könnten zwar theoretisch fahren, aber ich bitte Sie! Woher hätte ein solcher herbeikommen sollen? Aus Santiago de Chile etwa? Die Situation war eben einfach verfahren.
Apropos verfahren: Das ist ja ein Aspekt, den man nicht verkennen sollte. Verfahren kann man sich ja nur, wenn man weiß, wohin man eigentlich will. Bei Zufallsreisen ist das nun eben nicht der Fall. Und da kann man gegen das Prinzip sagen, was man will, eines steht fest: Verfahren in diesem Sinne kann man sich auf einer Zufallsreise nicht. Man spart sich daher alle guten Ratschläge der Beifahrer/innen, was ja allein schon einen gewissen Urlaubseffekt bewirken kann.
Und damit Sie nicht denken, jede gebuchte Reise sei ein Reinfall gewesen, möchte ich noch dies erwähnen: Einem Oberstudienrat und seiner Frau war ein einwöchiger Bildungsurlaub zugelost worden. Es handelte sich um ein wirklich schönes Paket von El-Nino-Reisen: „Überflüssige Klischees: Tauchen zwischen Piranhas“, ein Reisetipp der Volkshochschule Tuttlingen. Übernachtung in einem verlassenen Kopfjägerdorf in stilechten Pfahlbauten direkt im Sumpfgebiet; alle Visa und Impfungen inklusive. Der Oberstudienrat kehrte glücklich und zufrieden zurück – und zwar alleine. Das Klischee hatte nicht getrogen. Vermutlich rein zufällig.

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© Julius Moll