Sonntag, 11. Juni 2006

3 Sekunden


Prinz William geruhte anzureisen. "Ihm hat sich Ministerpräsident Koch angenommen", erläuterte WM-Reporter Ralf Scholt. Da hat sich der Genitiv auf der Ersatzbank gegrämt wie Michael Ballack, denn eigentlich wäre er fit gewesen für seinen Einsatz. Aber wer nicht mitspielt, kann auch kein Eigentor schießen wie Franz Müntefering, der die Kundgebung gegen die Nazi-Demo mit den Worten begründete: "Keine Toleranz gegenüber Intoleranz!" Dabei hat Münte mit Reden ähnlich viel Erfahrung wie ein argentinischer Nationalspieler, über den Reinhold Beckmann zu vermelden wusste: "… sein einhundertundeinstes Länderspiel …" Wenn er sich danach wenigstens verbessert hätte!
So geht also langsam und nahezu unbemerkt die Sprachkultur in die Binsen.
Dabei haben Sprache und Fußball mehr gemein als man glaubt. Stellen wir uns doch mal folgende Frage: "Warum spielen in jeder Mannschaft elf Menschen; nicht zehn, nicht zwölf, nein: elf?" Dazu gibt neuerdings die Forschung eine klare und höchst interessante Auskunft. Wissenschaftler haben gemessen, wie lange es dauert, bis der ballführende Spieler vom nächstplatzierten Gegenspieler erreicht werden kann (Sprint vorausgesetzt!). Die Antwort: ungefähr drei Sekunden. Und wie lange braucht ein Spieler, um einen Ball anzunehmen, einen frei stehenden Mannschaftskameraden zu identifizieren und den Ball abzuspielen? Ebenfalls etwa drei Sekunden. Unterschreitet man diese Zeit, kommt auf die Dauer kein attraktives Spiel zu Stande. Dauert es zu lange, den ballführenden Spieler zu erreichen, ist keine vernünftige Verteidigung möglich; Das Spiel wird körperlos und langweilig.
Was hat das mit Sprache zu tun? Nun, es gibt eine Faustregel, wie man Sätze tunlichst formulieren und schreiben sollte. Diese Regel geht von der psychologischen Erkenntnis aus, dass das Gehirn etwa alle drei Sekunden (!) die Umgebung abfragt; nach dem Motto: Gibt es irgendwo etwas Neues? Das kann man selber testen, wenn man jemandem zur Begrüßung die Hand reicht. Hält man sie weniger als drei Sekunden fest, wirkt es unhöflich, hält man sie länger, wirkt es aufdringlich. In drei Sekunden lassen sich ungefähr sechs Wörter lesen; im Durchschnitt sind das 12 Silben. Einschübe zwischen Subjekt und Verb oder eingeschobene Nebensätze sollten daher möglichst nicht länger sein. Sonst muss der Leser den Anfang noch einmal lesen, ob er will oder nicht. Das Gegenwartsfenster schließt sich nach drei Sekunden, ob man das mag oder nicht.
So also auch beim Fußball: Ist innerhalb von drei Sekunden keine essentielle Spielbeeinflussung möglich, wird's langweilig. Und um das zu erreichen, braucht man auf einem normalen Spielfeld zehn Feldspieler pro Mannschaft.
Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer nur übers Feld trabt, wenn der Gegner den Ball besitzt, oder wer zu lange braucht, um einen Ball anzunehmen und weiter zu leiten, senkt die Attraktivität des Spiels. Das sollten zumindest all die wissen, die damit ihr Geld verdienen. Dazu gehören auch die Reporter und Kommentatoren.
Vielleicht produzieren sie aber all ihre Schachtel- und Unsinnssätze ja absichtlich. Vielleicht ist es ja so, dass der Verkauf von Digitalrekordern deshalb boomt, weil die Zuschauer zwischendurch gerne mal die Live-Übertragung anhalten und kurz zurückspulen, um herauszufinden, was Beckmannkernerlierhausdelling da gerade gesagt hat. Der Claim für den nächsten kernerschen Werbespot wird also vermutlich lauten: "LG – damit Sie wissen, was ich meinte."

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© Julius Moll